Horrormärchen über die Luftverschmutzung

Tobias Blanken
4 min readJan 9, 2018

In einem Gastbeitrag für den TAGESSPIEGEL skizziert die Berliner Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Regine Günther, eine Verkehrspolitik, die den Rad-, Fuß- und öffentlichen Nahverkehr systematisch stärken soll. Ein Ansinnen der parteilosen Politikerin, die von Bündnis 90/Die Grünen in den Senat geholt wurde, das sicherlich sinnvoll ist; insbesondere, wenn man sich die Gefährdungslage für Radfahrer oder den schlechten Zustand der Berliner S-Bahn vergegenwärtigt.

In dem Text findet sich jedoch auch folgender Absatz:

Der augenblickliche Zustand vieler Metropolen und auch von Berlin sieht jedoch ganz anders aus und die Ursache ist schnell identifiziert: Der in den vergangenen Jahrzehnten enorm angestiegene Autoverkehr. Die Luftverschmutzung hat auf dramatische Weise zugenommen. Stickoxyde belasten die Gesundheit zehntausender Menschen, allein in der EU versterben knapp 30.000 Bürger vorzeitig an dieser Belastung. Ganze Wochen ihrer Lebens- und Arbeitszeit stehen Menschen im Stau – in Berlin im Durchschnitt jede und jeder knapp drei Arbeitswochen pro Jahr.

Das Problem: Bei “Die Luftverschmutzung hat auf dramatische Weise zugenommen” handelt es sich um eine kontrafaktische Aussage; sie ist falsch. Falsch, weil so ziemlich das genaue Gegenteil wahr ist, in den vergangenen Jahrzehnten konnte die Luftverschmutzung in vielen westlichen Metropolen und eben auch in Berlin erheblich gesenkt werden. Die Luftqualität wird besser, deutlich besser, im “Umweltatlas Berlin”, in dem die langjährige Entwicklung der Luftqualität in Berlin aufbereitet wird, wird die Entwicklung folgendermaßen zusammengefasst:

Seit 1989 konnten alle Emissionen stark reduziert werden, mit Rückgängen zwischen 73 % (Stickoxide) und 96 % (Schwefeldioxid). Die Feinstaub-PM10-Emissionen sind in diesem Zeitraum um 86 % zurückgegangen.

Damit ist Berlin keine Ausnahme, sondern folgt einfach einem stabilen, bundesweiten Trend, das Umweltbundesamt etwa fasst die Entwicklung der Luftverschmutzung im gesamten Bundesgebiet folgendermaßen zusammen:

Die Belastung der Luft mit Schadstoffen nahm in den vergangenen 25 Jahren deutlich ab. Mittlerweile gibt es in Deutschland keine Überschreitungen der europaweit geltenden Grenzwerte für Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid, Benzol und Blei mehr. Die Entwicklung von PM10 und NO2 ist zwar rückläufig, jedoch werden noch immer geltende Grenzwerte überschritten.

Neben umfangreichen Datenreihen gibt es dort auch Grafiken, die die Emissionen im zeitlichen Verlauf zeigen, etwa von dem Feinstaub der Partikelgröße PM10:

Die Entwicklung der Emissionen lässt sich anhand der Daten für die letzten Jahrzehnte eindeutig nachvollziehen, die Aussage der Senatorin, dass die Luftverschmutzung auf dramatische Weise zugenommen hat, ist komplett daneben. Und das auf zwei Ebenen, zunächst der persönlichen: Wenn die Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz solch eine Aussage aufstellt, dann hat sie a) entweder keine Ahnung von Luftverschmutzung oder b) lügt sie absichtlich, um ihrer im Text erhobenen Forderung nach einer stärkeren Förderung des Rad-, Fuß- und öffentlichen Nahverkehrs mehr Nachdruck zu verleihen. Und weder a) noch b) stehen einer Umweltsenatorin gut zu Gesicht.

Als zweite Ebene kommt die grundsätzliche hinzu. Kontrafaktische Aussagen über eine vermeintliche Verschlechterung der Gesundheitsbedingungen werden nur zu gerne geglaubt, weil sie voll auf den Mythos vom Moloch Moderne einzahlen. Dass wir ein längeres und gesünderes Leben als vor 50, 100 oder 1.000 Jahren leben, wird zunehmend verdrängt, stattdessen wird begierig all das aufgenommen, was eine gegenteilige Wahrnehmung stützt. Eine Prä­dis­po­si­ti­on, die durch die “Only bad news are good news”-Logik der Medien noch einmal verstärkt wird; der Dieselskandal, bei dem mit krimineller Energie beim Stickoxid-Ausstoß getrickst wurde, ist beispielsweise seit September 2015 ein wiederkehrendes Schlagzeilen-Thema, dass die Stickoxid-Emissionen in Deutschland seit Jahren abnehmen, nicht. Am Detail wird sich festgebissen, das große Ganze wird aus den Augen verloren.

Dabei muss man sich noch nicht mal in die finstersten Ecken des Ruhrgebiets begeben, um die konkreten Luftverbesserungen vor Ort zu realisieren. Im Prenzlauer Berg etwa, dem bevorzugten Quartier der grünen Blase (und entsprechend das Gottseibeiuns-Quartier der Dobrindts dieser Welt), hat es noch nach der Jahrtausendwende in einigen Straßenzügen deutlich wahrnehmbar gestunken, weil die Kombination aus Ofenheizung und den Trabants auf der Straße zwar einerseits nostalgische Gefühle weckt, andererseits aber nun einmal auch die Luft verpestet. Wie es dort erst in den Siebzigern und Achtzigern gestunken haben muss, als der ganze Stadtteil mit Kohle (Braunkohle, noch dazu) beheizt wurde und auf den Straßen fast ausschließlich Trabants und Wartburgs unterwegs waren, müsste sich eigentlich jeder problemlos selbst vorstellen können. Dass ein sanierter Altbau, wahlweise mit moderner Gasheizung oder Fernwärmeversorgung, im Prenzlauer Berg nicht immer Standard war, wird jedoch nur zu leicht verdrängt — dass die Parkbucht, auf der heute ein schnieker BMW mit der Schadstoffklasse Euro 5 steht, früher von einem Trabant besetzt wurde, ebenso.

Verschärfend kommt hinzu, dass sich die Verbreiter von Horrormärchen häufig als Kämpfer für die gute Sachen sehen. Oder sogar tatsächlich sind, schließlich ist die Luftverschmutzung ein enormes Problem — von der globalen Armut, der extremen Armut, der Armut in Afrika oder der Vergewaltigungen und der Entwicklung der Sklaverei ganz zu schweigen. Die damit einhergehende “Wir sind die Guten”-Attitüde ist jedoch alles andere als hilfreich, wenn es um die Faktentreue geht; der Dringlichkeit des eigenen Anliegens fallen Redlichkeit und Sorgfalt zum Opfer.

Kommt dann irgendwann raus, dass der Umgang mit den Fakten doch eher schlampig war, beschädigt das die eigene Glaubwürdigkeit — und die des Anliegens, der guten Sache wurde ein Bärendienst erwiesen. Kommt der schlampige Umgang mit den Fakten hingegen nicht raus, weil Horrormärchen nun einmal nur zu gerne geglaubt werden, wird dem unseligen reaktionären Denken vom allgemeinen Niedergang Vorschub geleistet. So oder so, die Folgen der Horrormärchen sind immer negativ; besser wäre es, man würde sie gar nicht erst in die Welt setzen.

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